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~*~* Kapitel 2 *~*~
Erste Bekanntschaften in der Fremde

Der Ritt ins Dorf dauerte mehrere Tage, war jedoch glücklicherweise frei von unangenehmen Zwischenfällen und auch nicht sonderlich beschwerlich. Während der ersten Tage ihrer Reise begegnete sie keiner Menschenseele. Doch je näher sie der Siedlung kam, umso häufiger kam sie auch an einsamen Bauernhöfen vorbei und sah die wenigen Knechte und Mägde auf den Feldern arbeiten, Ziegen hüten oder ähnliches tun. Auch einigen Reisenden und Händlern begegnete sie, doch hielt sich deren Zahl so in Grenzen, dass sie sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte.
Die meisten Nächte verbrachte sie unter dem Laub- und Nadeldach des Waldes und ernährte sich auch von dessen reichhaltigem Angebot und ihrem mitgebrachten Proviant. Sie kam oft genug an kleinen Bächen, Flüssen oder auch Quellen vorbei, sodass ihr Wasserschlauch immer gefüllt war.
Auch, als sich ihr die Gelegenheit bot, ihr Pferd kostenlos im Stall eines Bauern unterzustellen und ebenfalls kostenlos in dessen Scheune zu schlafen - sie hätte nur für etwas zu essen oder zu trinken zahlen müssen-, mied sie die Gesellschaft von Menschen lieber und hielt sich im Wald versteckt.

Am Abend des fünften Tages, als sie nach einem Lager für die Nacht Ausschau hielt, bemerkte sie einen großen Schatten zwischen den Bäumen. Doch sie spürte keine Gefahr von ihm ausgehen und so gab sie ihrer Neugier nach und saß ab. Vorsichtig ging sie näher an den Schatten heran, um nachzusehen, um was es sich handelte.
Die nunmehr orangenen, fast rötlichen Sonnenstrahlen, fielen durch das dichte Dach des Waldes auf den riesigen Körper von einem ausgewachsenen Wildschwein. Instinktiv legte Hiranhên ihre Hand an den Griff ihres Schwertes, doch dann bemerkte sie, dass das Wildschwein offenbar verletzt war, denn es lag auf der Seite und machte auch keine Anstalten, sie anzugreifen. Es grunzte nur widerwillig, als es den langen Schatten der Elfe bemerkte.
Sie kniete sich neben dem Borstentier nieder, wobei dieses sie nicht aus den Augen ließ und misstrauisch nach ihrem Schwert schielte. "Keine Angst, ich tu dir nichts. Ganz ruhig... Was hast du denn? Tut dir was weh?"
Noch während sie mit dem Tier sprach, spürte sie, dass sich jemand ihr näherte - jemand wirklich großes. Sie sprang auf und als sie herumfuhr, sah sie einen ziemlich wütend aussehenden Krieger in schwerer Rüstung und mit einer Streitaxt, die er über seinem Kopf schwang, auf sich zu stürmen. "Finger weg von meinem Max!!!" grollte er. Hiranhên, die einige Schritte zurückgewichen war und ihr Schwert kampfbereit vor sich hielt, sah auf das Tier zu ihren Füßen, das sich zu freuen schien, den Krieger zu sehen, denn es hatte sich auf den Bauch gerollt und grunzte fröhlich.
Der Angreifer blieb abrupt stehen und ließ seine Waffe sinken, während er verdutzt von ihr zum Wildschwein sah. Seine Stirn zog sich in Falten, als er angestrengt nachdachte. Hiranhên wusste, dass dies die beste Gelegenheit wäre, um sich schnell umzudrehen und zu ihrem Pferd zu laufen, denn ihr war klar, dass sie gegen die hohe körperliche Kraft des Kämpfers keine Chance hatte. Doch ihre Neugier hielt sie an dem Ort fest. Sie wollte unbedingt wissen, was es mit den beiden auf sich hatte.
Das Schwein hatte sich inzwischen erhoben. Es stand dreibeinig neben Hiranhên und wusste nicht so recht, was es machen sollte. Instinktiv kraulte die Elfe ihm den borstigen Rücken - an den Kopf kam sie nicht heran, ohne sich zu bücken.
Da hellte sich die Miene des Kriegers auf und er kam strahlend auf Hiranhên zu. Sie hatte noch immer ihr Schwert in der Hand, hielt es jedoch nicht mehr vor sich und sie war auch nicht mehr ganz so angespannt.
"Freunde von Max sind auch meine Freunde!" sagte der Kämpfer wohlgesinnt. Und um das zu bekräftigen umarmte er Hiranhên herzlich. Als er jedoch bemerkte, wie die zierliche Elfe ob der heftigen Freundschaftsbekundung nach Luft schnappte, ließ er sofort von ihr ab. "Oh, `tschuldigung... Bin manchmal `n bisschen stürmisch... - Geht's?"
Hiranhên hustete und räusperte sich. "Geht schon... Kein Problem..." Sie kam auch recht bald wieder zu Atem.
"Ich bin Ragnar und das ist Max, mein Wildschwein", plauderte er drauflos und spuckte dann neben sich auf den Boden.
"Dein ... Wildschwein." Hiranhên sah ihn unsicher an. Sie war zwar nicht mit den Gepflogenheiten der hiesigen Leute vertraut, doch sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht unbedingt normal war, ein Wildschwein als Haustier zu haben - und erst recht nicht ein so großes Exemplar!
Ragnar nickte und ließ sich neben dem Borstentier auf den Boden plumpsen. Dann kraulte er ihm über den Kopf und sah dabei irgendwie traurig aus. "Aber der arme kleine Max hat sich einen Stein in den Huf getreten, der ihm ganz furchtbar weh tut."
"Hast du nicht versucht, ihn zu entfernen?" fragte Hiranhên vorsichtig.
"Wie denn?" Ragnar sah sie verzweifelt an und deutete auf seine Axt und dann auf seinen Morgenstern. Das waren wirklich nicht die richtigen Werkzeuge dafür, das musste Hiranhên zugeben. Da fiel ihr ein, dass sie ihm ja ihr Messer anbieten könne, damit er es hiermit einmal versuche.
Ragnar war sofort angetan von der Idee.
Nachdem er sein Wildschwein von dem Stein und somit von den Schmerzen befreit hatte, betrachtete er nachdenklich das Messer. "Eine ziemlich gute Waffe..." meinte er anerkennend. Hiranhên befürchtete schon, er würde das Messer behalten, doch dann gab er es ihr mit den Worten "aber viel zu klein für mich!" zurück. Schnell steckte sie das Messer weg, bevor er es sich anders überlegen könnte. "Das ist eine richtige Waffe!" sagte er stolz und strich fast liebevoll über seine Streitaxt, an der es wirklich nichts auszusetzen gab, wie Hiranhên ihm bestätigte.
Bei einem Blick zum Himmel bemerkte sie, dass es schon fast dunkel war und da sie weit und breit keinen anderen geeigneten Lagerplatz sah und außerdem auch das Gefühl hatte, dass sie, wenn sie bei Ragnar und seinem Wildschwein blieb, für diese Nacht keine Angriffe von Fremden zu fürchten hatte, wagte sie es und bat ihn, diese Nacht die Lagerstelle mit ihm teilen zu dürfen.
Ragnar grinste sie freundlich an. "Aber klar doch! Das ist das Mindeste, wo du doch Max gerettet hast!"
Hiranhên winkte ab. "Ach..."
"Doch, doch. Das ist schon was wert! Das hätte nicht jeder gemacht." sagte er bestimmt und spuckte wieder auf den Boden. Doch in seiner Stimme schwang leichte Trauer mit.
Hiranhên horchte auf. "Wie meinst du das?" Sie hoffte, dass er etwas mehr über sich erzählen würde, denn langsam fand sie ihn doch trotz seiner imposanten und unter Umständen auch furchteinflößenden Erscheinung und dem Spucken ganz sympathisch und war neugierig auf das, was er über sich zu erzählen hatte.
"Najaaa", begann er gedehnt. "Leute, die mich nicht kennen, rennen vor mir weg. Und wenn sie mich doch kennen, dann..." er zögerte. Scheinbar musste er überlegen.
"Dann?" fragte Hiranhên.
"Dann auch."
Sie hätte fast gelacht, konnte es jedoch noch unterdrücken.
"Ist das dein Pferd?" fragte Ragnar unvermittelt.
Hiranhên warf einen Blick in die Richtung, in die er schaute. Dort stand Narumîr und beobachtete die Situation verunsichert. Er wusste nicht, wer dieser riesenhafte Krieger war, aber seine Herrin schien keine Angst vor ihm zu haben.
"Ja, das ist Narumîr", bestätigte Hiranhên. "Narumîr! Komm her! Na komm!" Der Hengst setzte sich langsam in Bewegung und behielt dabei immer Ragnar und besonders sein Wildschwein im Auge. Max begutachtete ebenfalls seinen Gegenüber.
Hiranhên griff nach Narumîrs Zügeln, um ihn zu einem Baum zu führen und abzusatteln.
"Ich hole das Abendessen!" rief Ragnar und stapfte in den Wald. Hiranhên hatte keine Gelegenheit mehr, zu fragen, was er damit meinte.

Als Ragnar mit einigen erlegten Hasen in der Hand zurück kam, hatte Hiranhên bereits das Lager hergerichtet und sogar schon ein Feuer gemacht. Narumîr stand angebunden nahe einem Baum und graste.
Sie grillten die Hasen und während sie aßen, erzähte Ragnar über sich:
"Ich bin auf einer Burg ziemlich weit draußen bei Rittern und Kämpfern aufgewachsen. Von denen hab' ich auch kämpfen und jagen gelernt. Im Moment bin ich hier im Wald, aber ich wohne eigentlich noch auf der Burg. Die nehmen das da nicht so ernst, wenn man mal ein paar Jahre nicht da ist. Die sind ein ziemlich lockere Gesellschaft." Er spuckte ins Feuer und es zischte kurz, als die Flüssigkeit verdampfte. Dann biss er herzhaft in den gegrillten Hasen, den er in der Hand hielt.
"Und... wie bist du zu ... deinem Wildschwein gekommen? Hattest du das auch schon auf der Burg?" fragte Hiranhên. Sie knabberte immer noch an ihrem ersten Hasen, während Ragner schon den dritten verzehrte.
"Nee, den hab' ich später erst getroffen."
"Und warum bist du überhaupt fortgegangen von der Burg?"
"Ich wollte mal was anderes sehen, als die Jungs da. Und deswegen bin ich losgezogen. - Das is' schon `ne Weile her..."
Sie schwiegen eine Zeitlang.
"Wo kommst du eigentlich her?" fragte Ragnar unvermittelt.
"Ich..." Hiranhên ließ den Spieß mit dem Essen sinken und starrte verträumt in die Nacht, als sie an ihren Vater dachte. Mit Mühe unterdrückte sie eine Träne. "Ich bin auch auf einer weit abgelegenen Burg aufgewachsen... Es kamen eigentlich nie Leute dorthin. Ich kann mich nur noch an den Händler erinnern, der ab und zu vorbei kam, um meinem Vater einige Lebensmittel zu verkaufen. Manchmal war auch ein Waldläufer zu Gast. Aber das ist lange her, da war ich noch kleiner. Ich kann mich an ihn kaum noch erinnern..."
"Waren denn da keine anderen auf der Burg?" Ragnar konnte sich ein so einsames Leben nicht wirklich vorstellen. Auf der Burg, wo er aufgewachsen war, unter all den seltsamen Typen, war es immer recht lustig zugegangen.
"Nein, mein Vater und ich lebten dort ganz allein."
Ragnar zählte an den Fingern etwas ab. Dann kratzte er sich am Kopf "Heißt das, ich bin der vierte Mensch, den du kennen lernst?" wollte er erstaunt wissen und spuckte wieder ins Feuer, das schon kleiner war.
Sie lächelte. "Naja, fast. Ich denke, es waren noch ein oder zwei Wanderer, die sich mal in unsere Gegend verirrt hatten, aber ansonsten niemand."
Den Rest des Essens schwiegen sie.
Als sie fertig waren, löschten sie das Feuer. Hiranhên sah noch einmal nach Narumîr und rollte sich dann in ihren Umhang und ihre Decke ein.
"Gute Nacht, Ragnar! - Schlaf gut Max..."
"Mmh..." brummte Ragnar, der es sich schon gemütlich gemacht hatte. Als Hiranhên einen Blick auf ihn warf, bemerkte sie, dass er seine Axt fest umklammert hielt. Max lag ganz in seiner Nähe. Sie war sich nicht sicher, wen er mehr liebte: sein Wildschwein oder seine Axt.

Es war am späten Nachmittag des nächsten Tages, als sie von einer Hügelkuppe aus, die sie gerade erklommen hatte, die Stadt sehen konnte - ganz so wie Ragnar es gesagt hatte. Sie zügelte ihr Pferd, um sich alles von weitem anzusehen. Es war zwar eine eher kleinere Stadt, doch trotzdem wirkte sie auf Hiranhên riesig. Schon allein deswegen, weil sie die größte Menschenansammlung beinhaltete, die sie je gesehen hatte. Irgendwie machte es ihr ein bisschen Angst, plötzlich unter so vielen Fremden zu sein und ihr wurde plötzlich klar, was ihr Vater damit gemeint hatte, dass es ein Fehler seinerseits gewesen wäre, sie nie unter Menschen gelassen zu haben. Doch ihre Unerschrockenheit besiegte das mulmige Gefühl und sie ritt neugierig auf die Siedlung zu.

Die meisten Menschen, die ihr vor den Toren begegneten, grüßten sie freundlich, die Bettler streckten ihr ihre dürren Arme mit den Bettelnäpfen in der Hand entgegen und der Wachposten, der aufpassen sollte, wer den Ort verließ und wer ihn betrat, musterte sie misstrauisch.
Sie lenkte ihr Pferd durch die verwinkelten, aber doch recht breiten Gassen und hielt Ausschau nach einem Schild, das auf ein Gasthaus hindeutete. Doch schließlich erkannte sie es daran, dass vor seiner Tür ein Balken war, an dem ein paar Pferde angebunden standen und darauf warteten, dass ihre Reiter aus der Wirtsstube zurück kamen. Sie saß ab und führte Narumîr ebenfalls zu dem Balken. Die anderen Pferde, ein strubbeliges Pony, ein stattliches Kaltblut, ein mittelgroßes Reitpferd mit staubigem Fell und ein mit Handelswaren beladenes Maultier, betrachteten den Neuankömmling interessiert, jedoch ohne große Aufregung.
Hiranhên band ihren Hengst in einigem Abstand von den anderen an und betrat dann das Wirtshaus. Ein Geruchgemisch aus Bier, Essen, Fett, verbranntem Talg und Schweiß schlug ihr entgegen und umnebelte sie für einen kurzen Augenblick. Langsam schritt sie dann auf den Ausschank zu und wartete dort. Der Wirt schenkte gerade in einige Bierkrüge ein. Als er sie bemerkte, wischte er sich die Hände an dem schmierigen Handtuch, das an seiner Hose hing, ab und kam zu ihr.
"Was kann ich für Euch tun?" fragte er mit tiefer, kräftiger Stimme.
Hiranhên zögerte kurz. Was wollte sie eigentlich? Gute Frage. Außerdem machte sie die Anwesenheit der anderen Menschen nervös. Der Wirt zog eine Augenbraue hoch, als sie nicht antwortete.
"Ich ... suche eine Unterkunft für die Nacht."
"Seid Ihr mit Eurem Pferd da?" wollte er bei einem Blick auf ihre Kleidung wissen, die für Frauen alles andere als normal war: Stoffhose, lederner, grüner Jagdrock und feste Lederstiefel, dazu Lederhandschuhe.
"Ja."
"Wenn Ihr wollt, könnt Ihr das Pferd zu meinen Ochsen in den Stall stellen. Da steht es wahrschienlich sicherer, als auf der Straße."
"Sehr freundlich. Danke." Hiranhên lächelte höflich.
Der Wirt rief nach seinem Kellner. "Zeig der Dame, wo sie ihr Pferd unterstellen kann und dann ihr Zimmer." Mit diesen Worten drückte er dem Mann einen Schlüssel an einem großen Stück Knochen in die Hand.

Nachdem Hiranhên ihren Hengst untergebracht und ihr Gepäck sowie Sattel und Trense sicher im Zimmer singeschlossen hatte, begab sie sich wieder in den Schankraum und setzte sich dort in eine dunkle Ecke nahe der Tür, von wo aus sie das Geschehen gut beobachten konnte, selber allerdings nicht allzuviel Aufmerksamkeit erregte.
Der Wirt brachte ihr auf ihr Verlangen hin einen Krug Bier und etwas Brot. Er sah sie zwar recht erstaunt an, als sie Bier bestellte, kam jedoch zu dem Schluss, dass diese Dame eben nicht so war wie die anderen. - Ganz abgesehen davon, dass es sich offenbar um eine Elfe handelte, wie er an ihren geschmeidigen Bewegungen und den etwas spitzeren Ohren erkannte.
Je später der Abend wurde, umso mehr füllte sich auch das Gasthaus. Und obwohl immer mal wieder jemand auf die Straße hinaus befördert wurde, fielen die Fehlenden doch kaum auf, da sofort zwei neue ihren Platz einzunehmen schienen.
Es gab ein harmloses Handgemenge, das schließlich dadurch beendet wurde, dass der Wirt drohte, wer es wagen sollte, noch einmal die Faust zu erheben, bekäme für eine Woche kein Bier mehr bei ihm.
Obwohl die Gästeschar in der Schenke nicht gerade aus reichen Leuten, sondern eher aus Bauern bestand, war der Wirt selber anscheinend doch etwas wohlhabender, denn er konnte es sich leisten, einige Spielmänner zu beschäftigen, die die Gäste mit Musik unterhielten.
Hiranhên begann langsam, sich an die vielen Menschen in dem kleinen Raum zu gewöhnen, war jedoch trotzdem froh um ihren etwas abgeschiedenen Platz. Als sie ihr Bier ausgetrunken hatte, nahm sie die restlichen Brotstücke und erhob sich langsam. Sie wollte nochmals nach Narumîr sehen, dass auch wirklich alles mit ihm in Ordnung war.
Das edle Ross sah zwischen den schweren Ochsen zwar etwas fehl am Platze aus, aber es schien ihn nicht zu stören, das Nachtlager mit denen teilen zu müssen, denn das Stroh war gut und trocken und der Stall war, wenn auch etwas düster, so doch trotzdem nicht muffig.
Nachdem Hiranhên überzeugt war, dass ihr Pferd eine gute Unterkunft hatte, ging sie selber auf ihr Zimmer und legte sich schlafen. Die Strohmatratze war zwar längst nicht so weich, wie es die auf Lhûgidh gewesen waren, doch aber bequemer, als der harte Waldboden.

Es ging auf die Nacht zu, als eine dunkle Gestalt durch den Taur-Beleg wanderte. Vor einem jungen Baum blieb sie stehen und betrachtete diesen kurz. Dann nahm die Gestalt eine Axt zur Hand und wollte gerade in den Stamm des Baums schlagen, als eine weibliche Stimme rief: "Halt!" Mitten in der Bewegung hielt die schwarz gekleidete Gestalt inne und bemerkte, als sie sich umsah, eine Waldläuferin auf sich zukommen.
"I-ihr könnt doch n-n-nicht einfach di-diesen jungen B-baum fällen!" schimpfte sie stotternd. Nicht weil sie Angst hatte, sondern weil sie schon von Geburt an diesen Sprachfehler hatte. Die schwarze Gestalt war etwas verwirrt und ließ die Axt sinken. "M-m-man muss den W-wald doch schützen u-und da-darf ihn nicht zer-zerstören!"
"Waf fällt Euch ein, mir Befehle su geben?!" erwiderte die schwarze Gestalt aufgebracht. Sie konnte nicht richtig sprechen, da - die Waldläuferin traute ihren Augen kaum - ihr Mund zugenäht war. "Ich brauche eben Feuerhols!"
"Abe-ber doch nicht von le-lebenden Bäum-men! Da-das ist doch unver-verantwortlich!"
So ging die Diskussion noch einige Zeit nicht gerade leise hin und her. Inzwischen hatte sich auf einem Ast in der Nähe der Waldläuferin ein Falke niedergelassen und hinter dem Kuttenmann kam ein riesiger schwarzer Wolf zum Vorschein. Die beiden Tiere beobachteten das Geschehen aufmerksam.
Der dunklen Gestalt, bei der es sich um einen Magier handelte, wurde der Streit langsam zu dumm und er konzentrierte sich gerade darauf, eine Feuerball zwischen seinen Händen zu materialisieren, um ihn auf die Waldläuferin zu schleudern und seine Ruhe zu haben. Da kam plötzlich Ragnar angerauscht. "Müsst ihr hier so `nen Lärm machen?!" fuhr er die Streitenden an. Die hielten überrascht inne, als der große Krieger sie beide am Schlafittchen packte und hochhob. Natürlich war die Konzentration des Magiers dadurch gestört und mit einem leisen popp verschwand der Feuerball wieder. Der Falke flatterte aufgeregt umher und der Wolf warf eine misstrauischen Blick auf das Wildschwein, das gemächlich hinter dem Krieger her trottete.
"Was is denn eigentlich los hier? Warum der ganze Stress?" wollte Ragnar wissen und sah von einem zum anderen.
Die Waldläuferin fand als erste die Sprache wieder: "Di-dieser Kerl da wo-wollte einen Ba-ba-ba-baum fällen!"
"Soll ich hier etfa nachtf erfrieren?!" schimpfte der Magier.
"Nein, na-natürl-lich nicht! - Aber..."
Ragnar verstärkte seinen Griff etwas, um klarzumachen, dass er langsam die Geduld verlor. Sowohl die Waldläuferin als auch der Magier sahen ihn besorgt an.
"Ihr k-könnt doch stattd-dessen T-t-totholz samm-meln", versuchte die Waldläuferin zu schlichten, denn sie bemerkte, dass sie dem Krieger an Kraft weit unterlegen war und rechnete bei einer eventuellen Rauferei nicht mit der Hilfe von dem dunklen Magier.
Doch auch dieser war intelligent genug, seinen Nachteil gegenüber Ragnar einzusehen und ging auf den Schlichtungsversuch des Mädchens ein: "Na, wenn ef euch glücklich macht..."
Ragnar grinste über das ganze Gesicht. "Na also, es geht doch!" Er ließ die Waldläuferin und den Magier wieder runter und klopfte ihnen auf die Schulter, was bei beiden ein kleines Keuchen hervorrief ob des starken Stoßes. "Ich bin übrigens der Ragnar. - Und wie heißt ihr?"
"Ähm..."
"Äh."
"Du schaust irgendwie ... anders aus", stellte Ragnar fest, als er den Magier betrachtete. "Bist du aus der Gegend hier?"
"Ich..."
"M-mein Na-name ist ... Katan", sagte die Waldläuferin. "Ich mu-muss jetzt aber w-w-weiter!" Und schon lief sie in den Wald hinein, gefolgt von ihrem Falken.
Die Männer sahen ihr noch kurz hinterher. "Du hast immer noch nicht gesagt, wie du heißt", erinnerte der Krieger den Magier.
"Man mich Orgim Doomhammer." Die Stimme von Orgim hatte einen geheimnisvollen Unterton, als er sich vorstellte. "Entchfuldigt mich, auch ich muff wieder meiner Wege siehen." Damit verschwanden der dunkle Magier Orgim und sein Wolf.
Ragnar blieb allein zurück und beschloss, sich ein Nachtlager zu suchen.

In der Frühe des nächsten Tages, noch bevor sich der Morgennebel ganz verzogen hatte, stand Hiranhên auf und überprüfte zuerst alle ihre Sachen auf ihre Vollständigkeit hin. Als sie sich überzeugt hatte, dass nichts abhanden gekommen war, hüllte sie sich in ihren Mantel und ging zum Stall, um Narumîr einen guten Morgen zu wünschen. Sie hatte die Brotreste vom Vorabend dabei. Auch ihrem Hengst ging es gut und er schien ebenfalls ausgeschlafen zu sein.
Als sie den Stall verließ, fiel ihr in einer Seitengasse ein struppiger Hund auf, der die Nase am Boden hatte und herumschnüffelte.
"Hey du", sagte sie mit freundlicher Stimme. Der Hund hob den Kopf und spitzte die Ohren. "Suchst du was zu Essen?" Er legte den Kopf schief. "Na, komm her. Schau mal, was ich für dich hab." Sie ging in die Hocke und hielt ihm ein Stück Brot hin. Zögernd kam der Hund näher und schnüffelte an dem Kanten in ihrer Hand. Dann nahm er es hastig und machte sich hungrig darüber her.
"Sie haben doch bestimmt noch mehr!" vernahm sie plötzlich eine weibliche Stimme in for-derndem Tonfall über sich. Erschrocken sprang sie auf. Auch der Hund machte einen Satz zurück. Jedoch erschrak er sich nicht vor der Stimme, die er sehr gut kannte, sondern war angesichts Hiranhêns heftiger Reaktion überrascht.
Hiranhên blickte in ein attraktives, aber bitteres Gesicht, das von langen roten Haaren umramht wurde. Die grünen Augen sahen sie fordernd und wachsam an. Hiranhên hatte es noch immer die Sprache verschlagen, doch sie musterte das Mädchen, das sie auf ungefähr 20 schätzte, von oben bis unten und bemerkte die ärmliche Kleidung. Es handelte sich offenbar um eine Herumtreiberin oder Diebin.
Auch Hiranhên wurde einer genauen Musterung unterzogen. Allerdings konnte man nicht sehen, ob die zu ihrem Vor- oder zu ihrem Nachteil ausfiel, denn der kalte Blick des Mädchens blieb unverändert.
Plötzlich erscholl ein Geräusch von einer Signaltrompete. Beide fuhren zusammen. Hiranhên wandte ihr Gesicht Richtung Hauptstraße, von wo das Geräusch kam. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen huschenden Schatten und als sie wieder in die schmale Gasse sah, waren Mädchen und Hund wie vom Erdboden verschluckt.
Sie focht innerlich mit sich selber, ob sie das Mädchen suchen oder zur Straße solle, um nachzusehen, was dort vor sich ging. Sie entscheid sich dann für die Straße, denn es schien etwas interessantes zu sein, da viele Menschen zum Platz vor dem Wirtshaus liefen. Auch Hiranhên ging in diese Richtung, blieb jedoch in der Seitengasse stehen und beobachtete alles von dort.
Ein Mann mit bunter Kleidung und einer kleinen Trompete um den Hals, der auf einem braunen Pferd saß und von einem ebenfalls berittenen Soldaten begleitet wurde, befand sich in der Mitte des Platzes und hatte eine Schriftrolle entfaltet, von der er mit lauter Stimme vorlas:
"Höret, höret! Heinrich, der Große, Herzog dieses Landes, veranstaltet, wie jedes Jahr, auf seiner Burg das traditionsreiche 'Turnier für angehende Helden'! Die Disziplinen werden dieses Jahr sein: Nahkampf, Zielschießen, Messerwerfen. Dem Sieger dieses Turnieres ist es vergönnt, eine Woche lang Unterricht bei dem besten Kämpfer des Landes zu nehmen! Das Turnier wird in sieben Tagen beginnen!"
Der Redner war zwar noch nicht fertig, doch Hiranhên interessierte sich nicht weiter für seine Worte. Sie vermutete ganz richtig, dass sich bald die halbe Stadt aufmachen würde, um dem Schauspiel beizuwohnen. Und wenn sie etwas über die Reiter herausfinden wollte, musste sie sich wohl oder übel auch auf den Weg zur Burg machen.

Nachdem sie beim Wirt bezahlt hatte, packte sie ihre Sachen zusammen und sattelte sogleich ihr Pferd. Sie sang dabei leise vor sich hin, wie sie es oft tat.
Als sie fertig war, führte sie Narumîr langsam aus dem Stall. Die Menschenmenge hatte sich inzwischen wieder verstreut, doch dafür herrschte in der Stadt heller Aufruhr und alle schienen Vorbereitungen zu treffen für den Marsch zu Herzog Heinrichs Burg.
Hiranhên hatte nicht vor, an dem Turnier teilzunehmen, dafür schienen ihr zu viele Menschen dort, doch sie wollte sich als Zuschauer umhören, was die Leute wussten. - Dabei musste sie sich ja nicht unbedingt ins Gedränge stürzen, sondern konnte auch am Rande verweilen und ab und zu Gesprächsfetzen aufschnappen.
Da fiel ihr ein, dass dieses Turnier für Ragnar interessant sein könnte. Und sie war sich sicher, dass der Bote nicht bis in den Wald reiten würde, nur um Ragnar zu erreichen.
"Na, was meinst du, Narumîr, sollen wir zu ihm gehen und es ihm sagen?" Der Hengst blies ihr sacht ins Ohr. "Ich deute das mal als ein 'ja'..." lachte sie. Dann führte sie Narumîr den Weg, den sie gekommen war, auch wieder aus der Stadt hinaus. Dort saß sie auf und ritt gen Wald.

Sie musste zwar erst einige Zeit suchen, doch dann fand sie Ragnar und Max. Er war überrascht, dass sie sich schon so bald wieder sahen.
Nach einer herzlichen Begrüßung beiderseits berichtete Hiranhên ihm, was sie vernommen hatte. Ragnar war sofort Feuer und Flamme, als er hörte, dass er seine Kampfkünste zeigen durfte. - Noch dazu vor so viel Publikum, denn natürlich wusste er um die große Beliebtheit von Heinrichs Turnieren.
"Wenn es dir recht ist, können wir zusammen dorthin reisen", schlug Hiranhên vor.
"Willst du auch mitmachen?" fragte Ragnar interessiert. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass die Elfe eine große Chance haben würde - außer vielleicht im Bogenschießen.
"Nein, aber ich will es mir ansehen", entgegnete sie.
"Achso..." Ragnar spuckte aus und stützte dann sein Kinn auf die Faust, um nachzudenken. "Ich denke, ich mach da mit. - Klingt lustig..." Er grinste breit. Hiranhên musste auch lächeln, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass es viele geben würde, die Ragnar an Kraft gewachsen wären.
Und so beschlossen sie denn auch, gemeinsam den Marsch anzutreten. Doch sie wollten erst am nächsten Tage aufbrechen, denn es begann schon zu dämmern.
Sie bemerkten nicht, dass sie belauscht wurden. In einem nahen Gebüsch hatte eine seltsame Gestalt alles mit angehört. Auch wenn sie den heimlichen Zuhörer bemerkt hätten, hätten sie doch nichts weiter als eine lange schwarze Kutte gesehen. Und statt des Gesichts tiefste Schwärze, aus der in Höhe der Augen zwei rote Lichter glühten, die aus den finstersten Abgründen der Hölle zu kommen schienen.
Diese Gestalt fand es auch sehr interessant, was sie hörte. Leise stahl sie sich fort, zu einem anderen Lagerplatz, der von Hiranhên und Ragnar unbemerkt blieb. Dort wartete ein riesiger schwarzer Wolf.
"Harrrrr!" ließ sich die dunkle Gestalt im Kapuzenmantel vernehmen - es war Orgim Doomhammer. Daraufhin erhob sich der Wolf und beide entschwanden in die rabenschwarze Nacht.

Am nächsten Morgen machten sich Ragnar und Hiranhên sogleich auf den Weg. Obwohl Hiranhên zu bedenken gab, dass es vielleicht besser wäre, Max nicht mitzunehmen, ließ sich Ragnar nicht davon abbringen und reagierte fast beleidigt. Hiranhên merkte schnell, dass sie ihn lieber nicht reizen sollte. Und eigentlich war es ihr persönlich auch von Herzen egal, ob Max sie nun begleitete oder nicht, denn sie kam mit ihm prima aus.
Den Weg zu Heinrichs Burg konnten sie praktisch nicht verfehlen, da sich viele in diese Richtung begaben und sie denen nur zu folgen brauchten. Doch das taten sie auf Hiranhêns Wunsch hin etwas abseits der Straßen, da sie immer noch nicht ihr ungutes Gefühl im Bezug auf große Menschenmengen verloren hatte und außerdem einer Keilerei zwischen Ragnars Wildschwein und irgendwem anders aus dem Weg gehen wollte.

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