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~*~* Kapitel 13 *~*~
Das zerstörte Tor

Am Morgen des neunten Tages im Monat Anavalon wachte Hiranhên als erste auf. Es war noch vor Sonnenaufgang, doch die Morgendämmerung verdrängte schon langsam die Schwärze der Nacht. Leise glitt die Elfe aus dem Bett, um ihre Gefährten nicht zu wecken. Es gelang ihr, ebenso leise ihre Sachen zu packen und aus dem Raum zu schlüpfen.
Als sie auf die noch unbelebte Straße trat, umwehte sie die eiskalte Morgenluft. Sie war froh, dass sie ihren Mantel dabei hatte.
Nach einiger Zeit kam sie an das Stadttor, durch das sie Karlsstadt in der letzten Woche schon oft betreten und verlassen hatte. Der Wächter, der um diese Zeit dort stand, kannte sie schon, da sie immer so früh aufstand und jeden Morgen zu ihrem Pferd gegangen war. Er begrüßte sie mit einem Nicken, dass sie erwiderte.
Inzwischen war es schon etwas heller und die Sonne ging langsam auf. Der Himmel war in ein sanftes rot getaucht, während sich im Westen noch die letzten Sterne auf einem dunklen Himmel hielten.
Wenn die Elfe am Anfang ihres Weges noch gefröstelt hatte, dann war ihr nun angenehm warm, als sie den Stall betrat. Auch der Stallbursche kannte sie schon und ließ sie eintreten. Narumîr begrüßte sie mit einem leisen Schnauben, als sie zu ihm trat.
"Guten Morgen! Na, hattest du eine angenehme Nachtruhe?" Sie lachte leise. "Heute geht die Reise weiter. Dann kannst du dich nicht mehr ausruhen..." Sie kraulte seinen Hals, während sie mit ihm sprach. Dann nahm sie das Seil, das sie gekauft hatte und legte es ihm locker um den Hals. Eigentlich hätte sie dies nicht gebraucht, doch der Stallbursche hatte schon beim letzten Mal, als sie ihn einfach an der Mähne heraus geführt hatte, so seltsam geschaut und sie wollte den armen Jungen nicht verunsichern...
Man hatte ihr gezeigt, wo sie einige verschiedene Bürsten finden konnte und diese holte sie sich jetzt, um ihren Hengst zu putzen. Sie sang während der Arbeit leise vor sich hin:
"A Randir Vithrin
ú-reniathach i amar galen
I reniad lín ne mór, nuithannen
In gwidh ristennin, i fae narchannen
I lach Anor ed ardhon gwannen
Caled veleg, ethuiannen."

Es war ein altes Lied, das der befreundete Waldläufer ihres Vaters öfters gesungen hatte. Sie hielt sich selber nicht für eine besonders gute Sängerin, doch es machte ihr Spaß und bisher hatte sich noch nie jemand beschwert. Sie bemerkte nicht, wie der Stallbursche sich unauffällig in der Nähe niedergelassen hatte, um ihrem Gesang zu lauschen.
Als sie fertig war mit ihrem eigenen Pferd, ging sie erneut in den Stall, um Ragnars Ross zu holen. Sie hatte sich Xantchas Seil ausgeliehen und band das große Schlachtross ebenfalls draußen an. Allerdings in einiger Entfernung, da es sich ebenfalls um einen Hengst handelte.

Als sie nach etwa zwei Stunden auch noch die Pferde von Orgim und Bohumil geputzt hatte, kam Katan. Sie nickte der Elfe nur kurz zu und holte sich ihr Pferd.
Nach weiteren zwei Stunden waren alle Pferde geputzt und die beiden Mädchen hungrig. Zum Glück hatte Katan daran gedacht, nicht nur ihre eigenen Sachen, sondern auch etwas zu Essen mitzunehmen. Die beiden frühstückten in aller Ruhe und begannen dann, die Pferde zu satteln.
Die anderen kamen an, als sie gerade dabei waren, Chiaras und Orgims Rösser aufzuzäumen.
"Einen wunderschönen guten Morgen die Damen!" rief Bohumil überschwenglich. Anscheinend hatte er besonders gute Laune.
"Guten Morgen."
Nach einer halben Stunde war alles verstaut und sie brachen auf.

Sie folgten der Hauptstraße, die nach Metriciens ausgeschildert war und kamen gut voran. Nach vier Tagen erreichten sie einen großen Fluss und waren einige Stunden später schon in Metriciens.
Da es langsam dunkel wurde, beschlossen sie, die Nacht in der Stadt zu verbringen und erst am nächsten Morgen weiter zu reiten.
Die Gruppe entschloss sich, wieder der Straße zu folgen, die nach Süden führte. Doch dieses Mal ritten sie nicht stur nach Süden - was das letzte Mal bewirkt hatte, dass sie die Straße hatten verlassen müssen - sondern folgten der Straße weiter. Das Zelt wurde jedesmal in einiger Entfernung von der Straße, auf möglichst weichem Grund aufgeschlagen. Was nicht immer einfach war, da der Boden immer kärger und steiniger wurde.
Schließlich erreichten sie nach weiteren zwei Tagen ein Gebirge und am Nachmittag des dritten Tages stießen sie auf ein riesiges Tor, das von zwei Türmen, die aus dem Fels gehauen zu sein schienen, eingerahmt wurde. Doch das Tor war zerstört und auch die Türme schienen in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein.
Die Türen zu den Türmen waren offen und so betraten Hiranhên, Chiara, Bohumil, Orgim und Ragnar - Casali und Katan blieben bei den Pferden - den ersten. In seinem Inneren führte eine lange Wendeltreppe nach oben, an deren Ende eine zerbrochene - oder zerstörte - Holztür war.
Dahinter befand sich ein leerer Raum, in dem nur ein zerbrochener Bogen lag, sowie zwei Pfeile. Hiranhên betrachtete die Pfeile und als sie sie für gut befunden hatte, steckte sie die Geschosse in ihren Köcher.
Da es hier nichts interessantes gab, gingen sie zum nächsten Turm und betraten diesen. Auch dort führte eine Wendeltreppe nach oben, doch die Tür an ihrem Ende war noch intakt und verschlossen.
Bohumil wandte sich an Ragnar: "Also, da ist eine Tür, die ist zu. Was machen wir da?" Ragnar sah ihn mit schief gelegtem Kopf an und schien nachzudenken. An seiner Stelle antwortete Xantcha: "Wie wär's mit der Axt?"
"Lass ihn doch mal selbst überlegen!" herrschte sie Bohumil an.
"Durchrennen?" überlegte Ragnar laut, doch als die anderen nicht zustimmten dachte er weiter nach.
Nach einigen Sekunden des Wartens wurde es Bohumil zu viel. "Oh, jetzt sagen wir's ihm, ich kann nicht mehr! - Ragnar, wie wäre es, deine Axt zu verwenden?!"
Der Krieger ließ sich nicht zweimal bitten und verarbeitete die Tür zu Kleinholz.
Der Raum hinter der Tür war, wie der andere auch, rund und hatte zu allen Seiten Fenster. Unter einem dieser Fenster saß ein zitternder Mann, der sie aus schreckgeweiteten Augen anstarrte.
Die Gefährten waren etwas verlegen und sahen von einem zum anderen. "Vielleicht hätten wir doch erst klopfen sollen..." bemerkte Xantcha leise.
Dann sahen sie alle plötzlich auf die Elfe, die den Raum als letzte betreten hatte. Sie blickte erst in die auffordernden Gesichter ihrer Begleiter und dann auf den schlotternden Mann.
Während sie langsam auf ihn zu ging, sprach sie leise beruhigende Worte: "Tut uns leid, dass wir hier so einfach eingedrungen sind... Wir dachten, alles sei verlassen... Wir wollen Euch nichts tun..." Sie kniete vor ihm nieder und legte ihren Bogen zur Seite, den sie bis eben noch bei sich getragen hatte.
Nach und nach beruhigte sich der Mann, auch wenn er immer noch sehr skeptisch auf die Elfe und den Rest der Gruppe, besonders Orgim, starrte.
"Was ist hier passiert, dass alles in Trümmern liegt und Ihr Euch in diesem Turm verschanzen müsst?" fragte Hiranhên mit sanfter Stimme.
Stockend begann der Mann zu erzählen: "Da... da waren... große ... böse Wesen... Die haben ... das Tor zerlegt..." Er schwieg kurz.
"Was für Tiere?" fragte Xantcha aufgeregt und bekam dafür einen mahnenden Blick von Hiranhên zugeworfen.
"Weiß nicht... hab ich noch nie vorher gesehen..."
"Wieviele waren es denn?" fragte die Elfe um eine beruhigende Stimme bemüht.
"Viele!"
"Von wo kamen sie?" fragte Bohumil. Auch ihn wies Hiranhên mit einem Blick an, ruhig zu sein.
Der Mann starrte vom Magier zur Elfe. Seine Augen waren zwar immer noch schreckgeweitet, doch er schien inzwischen von einer Panik weit entfernt zu sein. "Von drüben." Dabei deutete er in die entgegengesetzte Richtung aus der sie gekommen waren.
Hiranhên wandte sich ihm wieder zu. "Wie lange ist das schon her?"
"Nun... ich... ich weiß nicht genau..." Die Elfe vermutete, dass er unter Schock stand und deshalb sein Zeitgefühl verloren hatte. "Doch... Es müssen so ... etwa drei Tage sein... Meine Vorräte sind alle..."
Sie schwiegen eine Weile.
"Wie konntet Ihr Euch eigentlich retten?"
"Mir wurde gesagt, wenn ich von einer Überzahl angegriffen werde, soll ich diese Schriftrolle nehmen", dabei deutete er auf ein älteres Stück Pergament neben sich, "den Spruch vorlesen, und dann sei die Tür für einige Zeit magisch versiegelt..."
Wieder schwiegen sie.
"Und nun?" sprach Xantcha schließlich den Gedanken aller aus.
"Nun, wir sollten dem Herzog berichten, was hier geschehen ist", meinte Chiara.
"Aber er hat doch bestimmt schon davon erfahren. Immerhin ist es drei Tage her..."
"Er könnte aber meinen, dass wir unseren Auftrag nicht ernst nehmen."
"Aber es ist doch jetzt viel wichtiger, herauszufinden, woher die Bedrohung kommt. - Und was noch alles folgen wird..." mahnte Orgim.
Während sie diskutierten, konzentrierte sich Bohumil auf einen Zauber, was allerdings nur Orgim und Chiara mitbekamen. Hiranhên, die immer noch neben dem Mann stand, fühlte eine ganz leichte magische Präsenz, allerdings so schwach, dass sie sich nicht sicher war, ob es reine Einbildung gewesen war.
Nach einigem Hin und Her einigten sie sich schließlich darauf, dass Bohumil, der gemerkt hatte, dass das Abenteurerleben auf die Dauer recht anstrengedn werden konnte und deswegen lieber wieder studieren wollt, und Chiara, die anscheinend ihren Vater vermisste, zurück reiten würden zum Herzog, während der Rest sich weiter nach Osten vorwagte.
"Allaa wird uns begleiten", meinte Bohumil. Als die anderen ihn verwirrt ansahen, fügte er hastig hinzu: "D-das ist der Name des Mannes. Ich ... ich habe ihn in seinen Gedanken gelesen..." Sie waren sich nicht sicher, ob sie ihm dies glauben sollten, doch keiner wollte noch eine weitere Diskussion, da sie schon genug Zeit verloren hatten.

Nachdem Katan und Casali von den Plänen unterrichtet worden waren, teilten sie die Nahrungsvorräte so auf, dass Chiara und Bohumil nur das allernötigste mitnahmen, da sie inzwischen ja wussten, wo sie übernachten konnten, während Hiranhên und die anderen den größeren Teil erhielten.

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